Junge Ukrainerinnen in Herford
Junge Ukrainerinnen in Herford
Herford. Zukunftspläne schmieden - ein Ding der Unmöglichkeit für die sechs Schülerinnen und einen Schüler, die am heutigen Tag den Unterricht in der ukrainischen Förderklasse des Anna-Siemsen-Berufskolleg (ASB) besuchen. Eigentlich gehören zwölf junge Frauen und zwei Männer der Klasse an, doch nur die Hälfte ist gekommen. "Oft haben die Schüler Termine, zum Beispiel müssen sie andere Familienmitglieder bei Behördengängen unterstützen und übersetzen oder sie reisen für ein paar Tage in ihre Heimat", erklärt Christian Pook, der Klassenlehrer. Die Schülerinnen und Schüler der Klasse sind zwischen 16 und 19 Jahre alt - der Großteil ist aber 16 und 17.
Ziemlich direkt nach dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 kamen die meisten Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine am Anna-Siemsen-Berufskolleg an, erinnert sich Pook. Seit Sommer 2022 existiert offiziell die ukrainische Förderklasse. "Sie ist Teil des Regierungsprogramms "Fit für Mehr" - FFM - das dafür aufgelegt wurde, damit die jungen Menschen hier ein Jahr lang 20 Stunden in der Woche die deutsche Sprache lernen können."
Laute Geräusche können viele noch heute nicht ertragen
Wie das jede Schule genau in ihren Ablauf einbaut, können individuell entschieden werden. "Wir haben eine rein ukrainische Klasse gebildet, weil wir erst einmal wollten, dass die Schülerinnen und Schüler hier ankommen können, sich wohl fühlen. Dafür ist es hilfreich gewesen, dass sie sich untereinander auch auf Ukrainisch austauschen konnten", erzählt Pook, der gemeinsam mit vier weiteren Kollegen in dieser Klasse eingesetzt wird. Als Ausgleich zum Deutschunterricht gibt es einmal in der Woche gemeinsames Kochen. "Da haben wir schon einmal Borschtsch nach ukrainischem Rezept gemacht. Das hat ihnen viel Spaß gemacht und war sehr lecker." "Der geschützte Raum war am Anfang extrem wichtig", so Pook. Schließlich hätten die Schüler viele traumatisierende Erlebnisse in ihrem Heimatland und auch auf der Flucht hinter sich gehabt. "Ich habe die Schüler immer gebeten, mir Rückmeldungen zu geben, wie ihnen der Unterricht gefällt. Und eine der häufigsten Rückmeldungen war, dass ich zu laut bin. Wenn ich zum Beispiel in die Hände klatsche oder auf den Schreibtisch klopfe, zucken viele zusammen. Das habe ich mir abgewöhnt." Einmal, ganz zu Beginn des Unterrichts, sei in einem Klassenraum direkt über der ukrainischen Förderklasse umgeräumt worden. "Als da oben Stühle und Tische gerückt wurden, hatten die hier wirklich Panik." Als sie das erste Mal die Klasse besuchten, hätten sie nie erwartet, dass sie nach einem Jahr noch hier sein würden, sagen alle Schülerinnen der Klasse rückblickend. "Vielleicht einen oder zwei Monate hätte ich gedacht, hier zu bleiben", sagt Sofia. Aufgeregt sind die sechs jungen Frauen und ein junger Mann, weil sich die Presse zum Besuch angemeldet hat. "Sie wollen keinen schlechten Eindruck hinterlassen, weil sie noch nicht so gut Deutsch sprechen, erklärt Christian Pook. Dabei verstehen die sieben Anwesenden fast alles auf Deutsch. Nur mit dem Antworten hapert es etwas. Mit ein paar Brocken Englisch und kurzen Rückfragen untereinander auf Ukrainisch klappt die Verständigung aber doch ganz gut.
Sechs der Schüler wollen "auf jeden Fall zurück nach Hause", wenn der Krieg vorbei ist. Nur Inha nicht, die einen deutschen Vater hat und sich durchaus vorstellen kann, in Deutschland zu bleiben. "Ich würde gerne Lehrerin werden und die Ausbildung hier machen", sagt sie. Hätte Russland ihr Heimatland nicht angegriffen, wäre sie schon auf dem besten Weg dahin. "In der Ukraine wären viele der hier Anwesenden jetzt schon mit der Schule fertig und könnten bereits studieren", erklärt Christian Pook. Bereits mit der 11. Klasse erreichen die Schüler in der Ukraine ihren Abschluss. "Als wir hier mit der Förderklasse gestartet sind, waren vor allem die Mütter, die am ersten Tag mit dabei waren, entsetzt davon, dass ihre Kinder hier zur Schule gehen, und damit keinen Abschlüsse oder Ähnliches erreichen können. Selbst Zertifikate über ihre Deutschkenntnisse kann das Anna-Siemsen-Berufskolleg den Schülerinnen und Schülern nicht ausstellen. "Und das, was an deutschen Hochschulen meist verlangt wird, ist ein C2-Zertifikat, das große deutsche Sprachdiplom. Davon sind sie nach einem Jahr noch weit entfernt. Und die Prüfung für den offiziellen Nachweis müssten sie auch selbst bezahlen", so Pook. Die Förderklasse ist auf ein Jahr angelegt, im Sommer ist also Schluss. Und dann? "Wenn sie nicht zurück können, wonach es aktuell aussieht, können sie in die internationale Klasse hier am ASB wechseln. "Dort sind Schüler mit insgesamt 14 verschiedenen Sprachen zusammengefasst. Das wird dann ein ganz anderes Lernen, nicht mehr im geschützten Raum."
Ob sie im Sommer dorthin wechseln wollen, wissen die Schülerinnen jetzt noch nicht. "Eigentlich warten wir nur darauf, dass der Krieg endlich aufhört", spricht Inha das aus, was wohl alle ihre Klassenkameraden denken. Und während des Wartens geht den Jugendlichen, die sowieso schon vieles verloren haben, vor allem noch eines verloren: Zeit! Und das, obwohl ihr Land sicher bald junge, gut ausgebildete Menschen händeringend gebrauchen kann. "Ein Dilemma", sagt Christian Pook. Ein wenig sei es so, als würden seine Schülerinnen und Schüler im Wartezimmer sitzen und darauf hoffen, dass sie bald aufgerufen würden.
Träume haben die Ukrainerinnen und Ukrainer trotzdem noch, auch wenn ihnen für die Realisierung die Zeit wegläuft: Valeria und Sofia möchten Schauspielerinnen werden. Auf die Frage, wann sie glauben, wieder zurück zu können, geben die beiden keine Antwort mehr. Nur ein Schulterzucken ist die Reaktion. Und Klassenkameradin Liza hat sogar Vorstellungen, die davon unabhängig sind: "Ich möchte eine Ausbildung zur Physiotherapeutin machen", sagt sie. Die Begründung: "Dann kann ich den Kämpfenden helfen."
„Junge Ukrainerinnen in Herford: Im Wartezimmer des Krieges“ aus „Neue Westfälische, 24. Februar 2023.
Text und Fotos: Natalie Gottwald.
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